Ki: Eine Kritik

 

In Kampfkunstkreisen gerne als „spirituelle, kosmische Energie und Lebenskraft“ übersetzt, werden Ki ähnliche Charakteristika zugeschrieben wie z.B. der in zahlreichen Kulturen vorkommenden Vorstellung der Atemseele, dem pneuma der altgriechischen Vorstellung, oder dem Konzept der vis vitalis (Lebenskraft) des Vitalismus, wie es auch in der Homoöpathie Verwendung findet. Das Problem mit solchen europäischen Konzepten ist, dass sie wissenschaftlich weitgehend diskreditiert wurden und sich hauptsächlich in Esoterikkreisen einer gewissen Beliebtheit erfreuen.

Die Existenz von Ki, die in asiatischen Kulturkreisen allgemein akzeptiert wird und keines weiteren Nachweises bedarf, muss europäischen Skeptikern daher leicht verständlich demonstriert, um nicht zu sagen „bewiesen“ werden. Für diesen „Beweis“ macht man in Europa gerne Gebrauch von einer Ki-Demonstration namens „der unbeugsame Arm“.

Bei dieser Demonstration bittet man üblicherweise einen skeptischen Zuschauer aus dem Publikum auf die Bühne und lässt ihn einen seiner Arme gestreckt, mit der Handfläche nach oben, dem Ellbogen nach unten, auf die Schulter eines Aikidoka legen, der sich dem Gast gegenüber aufstellt. Man fordert den Freiwilligen auf, seinen Arm gestreckt zu halten, indem er alle Muskeln im besagten Arm anspannt und alle seine Kraft aufbringt, um den Arm nicht beugen zu lassen. Der ihm gegenüberstehende Aikidoka ist daraufhin (relativ) leicht in der Lage, den nach unten weisenden Ellbogen des Zuschauers mit beiden Händen von oben nach unten durchzudrücken und damit den Arm des Gastes zu beugen.

Im Anschluss wiederholt man das Ganze und bittet den Zuschauer, durch seinen Arm „Ki fließen“ zu lassen, indem er, anstatt seine Muskeln anzuspannen, sich vorstellt, dass ein gewaltiger Energiestrom durch seine Schulter und seinen Arm bis ans andere Ende der Halle fließe (Erinnerungen an Star Wars werden wach). Statt Energiestrom kann man ihm auch die Vorstellung eines starken Wasserstrahls geben, der durch einen Feuerwehrschlauch fließt und ein Feuer auf der anderen Seite löschen soll. Und zur großen Überraschung aller Anwesenden lässt sich sein Ellbogen nicht oder nur schwer beugen. „Ooooh!“ Applaus, Applaus.

Die Sache ist: Natürlich handelt es sich hier um einen einfachen, psychologischen Trick. Mal ganz abgesehen von den einseitig kontrollierten Umständen des Experiments und damit dem mentalen Druck, der auf das „Versuchskaninchen“ einwirkt, gibt es eine ganz natürliche, physiologische Erklärung dafür, dass der Arm sich beim ersten Versuch beugen ließ und beim zweiten nicht. Im menschlichen Arm gibt es nämlich Muskeln, die den Arm strecken, und solche, die ihn beugen. Wenn man den Freiwilligen aus dem Publikum nun bittet, „alle“ Armmuskeln anzuspannen und seine gesamte Kraft aufzubringen, um dafür zu sorgen, dass der Arm sich nicht beugen lässt, neutralisieren sich nämlich die Armstreck- und die Armbeugemuskeln gegenseitig und arbeiten gegeneinander. Der Arm wird zwar steif, lässt sich aber relativ einfach von außen beugen.

Beim zweiten Versuch dagegen unterstützt die Vorstellung eines Energieflusses oder Wasserstrahls, der durch den Arm fließt, tatsächlich die Aktivierung nur der Armstreckmuskeln, während die Armbeuger entspannt bleiben und die Armstreckung nicht neutralisieren. Absolut gesehen wurde beim zweiten Versuch also nicht mehr Kraft oder „Energie“ entwickelt, sondern im Gegenteil sogar weniger, weil weniger Muskeln effektiv benutzt wurden, um ein besseres Ergebnis zu erzielen.

Jetzt sehen Sie allerdings selbst, wieviel Platz und Zeit nötig war, um dieses Prinzip zu erklären. Darüberhinaus ist es ziemlich schwierig, es bewusst in Bewegungen mit dem ganzen Körper umzusetzen und aktiv zu verwenden. Stellen Sie sich einen Trainer vor, der bei jeder neuen Bewegung erst einmal eine Liste von Muskelgruppen aufzählt, die es zu aktivieren gilt, während man alle anderen Muskeln gefälligst zu entspannen habe. Nur außergewöhnlich begabte und trainierte Menschen mit einem tiefgehenden Körperbewusstsein wären dazu in der Lage. Demgegenüber verhilft die einfache Vorstellung vom Energiefluss auch Anfängern und Menschen ohne besonderem Körperverständnis unbewusst zur Aktivierung der richtigen Muskelgruppen und ermöglicht ihnen so, sich „richtig“ zu bewegen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Sogar Menschen, die keine Vorstellung von einer „alles umgebenden Energie“ oder „Lebenskraft“ haben oder dieser Vorstellung sogar skeptisch gegenüberstehen, also Menschen, die Ki nicht kennen bzw. nicht daran glauben, verhilft die Vorstellung des Energieflusses, ihren Körper richtig zu benutzen und besser damit umzugehen.

Daraus lässt sich schließen, dass man, ganz unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz von Ki, Aikidō auch lernen und üben kann, ohne eine konkrete Vorstellung von Ki zu haben. Man liest zwar oft, dass man für die Ausübung von Aikidō keine Muskelkraft brauche oder sogar keine Muskelkraft benutzen dürfe, aber auch das ist nur bedingt wahr. Es geht vielmehr darum, wie man seine Kraft benutzt, und, dass der falsche Einsatz von Kraft kontraproduktiv ist. Anfänger, die ihre Körper nicht zu benutzen wissen, können die ihnen zur Verfügung stehende Kraft nicht effektiv nutzen und stehen sich selbst im Weg. In einer solchen Situation ist es besser, keine Kraft zu benutzen und erst nur die Techniken nachzuahmen. Mit fortschreitendem Training lernt man nicht nur sich besser zu bewegen, sondern entwickelt auch einen Aikidō-spezifischen Muskelapparat, den man gezielt und effektiv einzusetzen lernt.

Womit natürlich nicht geklärt ist, was Ki eigentlich ist, oder ob es überhaupt existiert!

(Autor: Max Seinsch)