Die Banalität der Exotik

Viele ausländische Touristen in Japan bekommen einen Kulturschock. Das liegt zum Teil natürlich auch daran, dass das Klima anders als gewohnt ist, sie die Sprache nicht verstehen, das Essen ungewohnt und Sitten und Gebräuche unbekannt sind.

Aber zu einem sehr großen Teil ist dieser Schock auch darauf zurück zu führen: Sie können plötzlich nicht mehr lesen! Von einem Moment auf den anderen (meist, sobald man den Flughafen verlässt) wird man zum Analphabeten!

Selten macht man sich bewusst, wieviel Informationen über die Schrift aufgenommen werden. Und solange man sich im westlichen Ausland befindet ist zumindest alles in römischen Buchstaben geschrieben, was einem als Touristen eine gewisse psychologische Sicherheit vorgaukelt. Aber in Japan wird Touristen selbst dieses eingebildete Verständnis genommen, weil die allerwenigsten auch nur die elementärsten Silbenschriftzeichen zu lesen vermögen, geschweige denn die komplizierten chinesischen Symbolschriftzeichen.

Viele Leuten machen sich das nicht wirklich bewusst und reagieren sehr unterschiedlich auf ihr eigenes Unverständnis. Einigen ist es (ein wenig) unangenehm, ohne dass sie wissen warum, anderen wird sogar etwas unwohl. Manchmal steigert sich das bis zur Übelkeit. Oft kann man beobachten, wie dieses Unbehagen in die Ablehnung der direkten Umgebung, sprich Japans, umschlägt: Nichts kann mehr schön und gut sein, die Japaner gehen einem nur noch auf die Nerven, und man will so schnell wie möglich wieder zurück ins eigene Land! (Und es sind nicht nur Deutsche, die so reagieren.)

Und dann gibt es solche, die alles einfach toll finden! Nichts kann den Enthusiasmus dieser Leute stoppen, denn ihr mangelndes Verständnis machen sie mit Begeisterung wett. Kein Hinweisschild kann zu unverständlich sein, kein Fußweg zu weit, keine Nudelsuppe zu fettig, kein Mückenstich zu sehr jucken. Denn das macht doch die Exotik des Landes der aufgehenden Sonne aus! (Und schließlich handelt es sich um eine japanische Mücke!)

Ich spreche hier auch aus eigener Erfahrung, denn als ich das erste Mal in Japan war, schwebte ich trotz japanischer Vorkenntnisse für zwei Monate drei Zentimeter über dem Erdboden. Endlich war ich im Land meiner Träume angelangt. Jeder peinliche Fehler wurde zur wertvollen Erfahrung hochstilisiert, zum Initiationsritus in die heiligen Gefilde der geheimnisvollen, japanischen Kultur.

Erst nachdem ich länger in Japan lebte, brach sich mit zunehmendem Verständnis meiner Umgebung die Erkenntnis in mir Bahn, wie banal doch eigentlich vieles war. Wo vorher ästhetisch verschlungene Schriftzeichen unbekannte Welten und Genüsse verhießen, eröffnet sich nun auf den ersten Blick ein Tante Emma Laden, ein Zahnarzt, ein Handy-Shop oder gar ein Metzger. Alices Wunderland verwandelt sich in den tristen Nachbarkiez.

Und wieder schlägt bei manchen in Japan lebenden Ausländern dieser Einbruch in die Realität in Ärger oder gar Feindschaft um. Wieder können einem die „dummen Japsen“ nichts recht machen, sind sie doch zu westlich geworden, zu normal.

Aber eigentlich kann ein wirkliches Verständnis des Landes, der Menschen und ihrer Kultur erst hier beginnen: Nachdem man von der Banalität des täglichen Lebens eingeholt wurde und merkt, dass es trotzdem seine Reize hat. Vielleicht andere als zu Beginn, aber darum nicht weniger attraktiv und bezaubernd.Erst hier kann man feststellen, wie entspannt und gemütlich, ja, fast schon beiläufig mit Ideen und Konzepten umgegangen wird, die einem vorher reine Magie bedeuteten.

Die „kosmische Lebensenergie“ namens „Ki“ ist eines davon. In unzähligen Ausdrücken und Idiomen wird das Wörtchen so häufig benutzt, dass einem beim Reden vor lauter Energie die Haare zu Berg stehen müssten. So normal, so inflationär wird Ki benutzt, dass alle Japaner sich seiner Bedeutung absolut sicher sind ..., bis sie nach der Bedeutung gefragt werden.

Darum sollte man vielleicht auch im Aikidō nicht darauf abzielen, zu Harry Potter oder Luke Skywalker zu mutieren, sondern erst einmal in die banale Realität zurückfinden. Denn die wahren Reize des Aikidō beginnt man erst zu erkennen, wenn man mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Tatsachen bleibt und trainiert und trainiert bis man über sich hinaus wächst und mit beiden Händen den Himmel erreicht.

(Autor: Max Seinsch)

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Comments: 2
  • #1

    Meike (Monday, 19 December 2011 22:00)

    Danke für diesen Eintrag - fand ich sehr sehr interessant - schon, weil für mich als "Langzeit-Ausländerin" die „im Ausland leben“ Erfahrung anderer natürlich immer interessant ist – aber, was Du über Japan-Besucher und den Kulturschock schreibst, finde ich insofern besonders spannend, als ich das ja von der anderen Seite kenne – in Schottland / England kommen die Leute an, und denken, sie verstehen alles (weil sie alles lesen können und auch fast alle ein bisschen Englisch sprechen) – der Kulturschock kommt dann erst viel später, wenn sie lernen müssen, dass noch erheblich mehr dazu gehört, als die Sprache zu verstehen, um eine Kultur wirklich zu begreifen. Genau wie Du schreibst:

    "Aber eigentlich kann ein wirkliches Verständnis des Landes, der Menschen und ihrer Kultur erst hier beginnen: Nachdem man von der Banalität des täglichen Lebens eingeholt wurde und merkt, dass es trotzdem seine Reize hat."

    Da habe ich schon oft gesehen, wie Leute, die meinten, sie kennen Grossbritannien, bloss weil sie Monty Python mögen, vom hohen Ross ihrer Arroganz fielen, und erst mal lernen mussten, dass es für sie noch verdammt viel zu lernen gibt…

  • #2

    Max (Tuesday, 20 December 2011 11:31)

    Danke für den netten Kommentar und die neue Perspektive auf das Phänomen "Kulturschock". Das gleiche habe ich in Japan auch bei selbsternannten "Japankennern" erlebt, die die Erfahrung machten, dass das tägliche Leben im "Land der aufgehenden Sonne" doch nicht so schön und romantisch ist, wie sie sich das in ihren Träumen ausgemalt hatten, und deswegen anfingen, praktisch alles abzulehnen , was sie nicht als "typisch" japanisch zu akzeptieren bereit waren. Das sind die Leute, die japanischer als die Japaner werden und über die Amerikanisierung der japanischen Kultur wettern.