Ki: Ein Übersetzungsansatz

 

Das Schriftzeichen „Ki“ (氣) setzt sich aus zwei Teilen zusammen, dem Radikal „iki“ (气), das gekrümmt aufsteigenden Atem bzw. Dampf darstellt, und dem Zeichen für „kome“ (米), Reis. Ursprünglich bezeichnete das Schriftzeichen daher die wadernden Dampfschwaden, die beim Reiskochen aufsteigen. (Heutzutage wird in Japan allerdings die vereinfachte Schreibweise 気 benutzt.)

Die Schwierigkeit, das kleine Wörtchen „Ki“ auf einen Nenner zu bringen, zeigt sich schon in japanischen Wörterbüchern, wo keine direkte Übersetzung gefunden werden kann. Der erste Eintrag im Wörterbuch der deutschen und japanischen Sprache (Robert Schinzinger et.al. (Hrsg.), Tōkyō: Sanshūsha 1980) lautet „yama no ki die Bergluft“. D.h. als erste Bedeutung von Ki erhalten wir „Luft“, auf Japanisch auch „kūki“, wörtlich das „Ki des Himmels“, also die Luft, die wir täglich ein- und ausatmen.

Dem folgen Idiome, in denen das Wort Ki mit Verben oder Adjektiven zusammengesetzt wird, um eine bestimmte Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Z.B. „ki-ga arai wild, leidenschaftlich“, wörtlich übersetzt „jemandes Ki ist wild, stürmisch“. Hier bezeichnet Ki also die Gefühle oder den Charakter eines Menschen. Was damit zum Ausdruck kommt, ist, dass die Bedeutung von Ki keinesfalls eindeutig ist, sondern meist erst im Zusammenspiel mit den gebrauchten Verben und Adjektiven seine konkrete Bedeutung erhält.

Das digitale Japanisch-japanische Wörterbuch Daijisen (Shōgakukan Verlag 2008) führt als ersten Oberbegriff von Ki „Zustand oder Bewegung von Leib und Leben, Bewusstsein oder Herz/Gefühlen“ an und listet dann als Unterbedeutungen in diesem Sinne auf:

a) Atem;

b) Bewusstsein

c) Bewegungen des Herzens/der Gefühle in Reaktion auf die Dinge und Umstände

d) psychische Neigung oder Gemütsart, Charakteranlage, Disposition

e) psychische Erregung oder Aufwallung, Schneid, Bravour

f) Laune, Stimmung, Gefühl

g) Bewegungen des Herzens, das an dies und das denkt; Sorge tragen; sich kümmern

h) Gefühle wie (starkes) Interesse und Begierde

i) Lust oder Absicht, etwas zu tun.

Das bedeutet, Ki wird als allererstes benutzt, um psychische Phänomene zum Ausdruck zu bringen.

Als zweiter Oberbegriff erscheint „Naturphänomene wie Luft, die Atmosphäre (um die Erde herum) und Gase wie Dampf“. Als dritter Oberbegriff bezeichnet Ki „die vorherrschende (gefühlsmäßige) Atmosphäre“ (z.B. in einem Raum). Vierter Oberbegriff ist „der besondere Duft oder das Aroma, das einem Ding zu eigen ist“. Und als fünfter und letzter Oberbegriff wurde Ki im alten China benutzt, um einen „Zeitraum von 15 Tagen“ zu bezeichnen.

Nirgends taucht hier also die Bedeutung von „Lebenskraft“ oder etwa „kosmischer Energie“ auf, während Bedeutungen im Zusammenhang mit Atem, Luft, Bewusstsein und Emotionen vorrangig sind. Dabei soll allerdings nicht vergessen werden, dass auch im westlichen Kulturkreis die Vorstellung vom „Odem Gottes“ existiert, der den Menschen das beseelte Leben gab.

Grob zusammengefasst lässt sich der Begriff Ki also auf die folgenden drei Bereiche beschränken:

a) Luft und Atem

b) Gefühle und Emotionen

und c) Wille und Absicht.

(Siehe hierzu auch mein Aikidō-Wörterbuch.)

Nach japanischer Auffassung sind diese Bereiche ebenso wie körperliches, emotionales und geistiges Gleichgewicht, nur schwer voneinander zu trennen. Das ist auch insoweit treffend, als bestimmte Gefühle und Absichten unbewusst bestimmte Muskeln im Körper aktivieren oder unwillkürlich zum Anhalten des Atems führen können.

Dementsprechend spielen alle drei Bereiche eine wichtige Rolle in der Ausübung des Aikidō: Durch kontrollierte Atmung werden aufbrandende Gefühle und Emotionen mit dem eigenen Willen und den eigenen Absichten in Einklang gebracht, fokussiert und auf ein bestimmtes Ziel hin konzentriert.

 

Aber ganz abgesehen davon, was Ki ist oder nicht ist: Wenn im Aikidō die Physik nicht stimmt, kann auch die (sogenannte) Metaphysik des Aikidō nicht funktionieren. Aikidō ist keine Magie! Metaphysik ist der Bereich, wo 1+1 mehr ergibt als 2, wo z.B. aus Mehl, Milch, Eiern, Zucker und Hitze ein Kuchen wird. Wobei natürlich darauf zu achten ist, dass die richtigen Ingredienzen in der richtigen Reihenfolge und Quantität zusammenzusetzen sind, um daraus den erwünschten Kuchen zu erhalten. Soll heißen: Auch hier beruht die „Metaphysik“ auf der korrekten Anwendung der Physik!

Das bedeutet aber, was auch immer man durch sein Aikidō-Training zu erreichen versucht, lässt sich nur durch aktives Training, d.h. durch physische Bewegung erreichen und verwirklichen. Gerade darauf beruht das Prinzip der japanischen Kampfkünste von „Herz – Technik – Körper“ („shin-gi-tai“): Die Einheit von Herz, Geist und Körper mittels der Technik. Die Technik ist das Mittel bzw. das Werkzeug, um Körper und Geist zu vereinigen.

Und nur in diesem Zustand der Einheit von Körper und Geist ist es möglich, Ki zu spüren und zu nutzen. Anders ausgedrückt kann Ki nur dann erzeugt und genutzt werden, wenn Körper und Geist sich einig sind und sich auf einer Wellenlänge befinden. Und das hängt ursächlich von der Technik ab.

Anstatt sich also unnütz Gedanken über die (sogenannten) metaphysischen Aspekte des Aikidō zu machen, ist es sinnvoller und produktiver, sich um die korrekte Ausführung der Technik zu bemühen. Und das bedeutet Training, Training und nochmal Training!

In diesem Zusammenhang fällt mir immer ein Grundsatz des Benediktinerordens ein: "Ora et labora! Bete und arbe(i)te!" Wenn man das nämlich in einem Kreis schreibt ergibt sich:

"Ora et labora et labora et labora et labora et labora …!"

"Bete und arbete und arbete und arbete und arbete und arbete …!"

Das Beten ist fester Bestandteil des Arbeitens, Arbeiten is Beten. Genauso ist im Aikidō alles im Training enthalten und über das Training hinaus ist nichts weiter nötig, weder Meditation noch spirituelle Übungen. Aikidō ist reine Praxis!

(Womit ich nicht sagen möchte, dass Atemübungen, Meditation und andere Übungen nicht auch für das Aikidō von Nutzen sein können!)

(Autor: Max Seinsch)