Päpstlicher als der Papst!

Die letzten drei Jahre in Japan hatte ich, als einer der ersten beiden Ausländer, die Ehre, zum Kanji, zum offiziellen Betreuer des Honbu Dōjō berufen zu werden. Zu unseren Aufgaben gehörte neben der Mithilfe bei der Organisation großer Veranstaltungen und des vierteljährlichen Großputzes auch die der Sittenwächter im Dōjō: Wir kümmerten uns um Anfänger, Besucher von außerhalb und ausländische Gäste und machten sie auf die (ungeschriebenen) Benimmregeln aufmerksam.

So sollten Mützen und Hüte vor dem Gebäude abgenommen werden und Schuhe werden im Eingangsbereich natürlich ausgezogen. Darüber hinaus dürfen z.B., abgesehen von den Büroangestellten, nur hochgestellte Lehrer und hoher Besuch im Gebäude Pantoffeln oder Slipper tragen. Für Japaner normalerweise kein Problem, aber für Gäste aus dem Ausland manchmal nicht so angenehm.

Dann gibt es immer mal wieder Teilnehmer, auch Japaner, die sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht wischen, während der Lehrer die nächste Technik vorführt. Weil das einen Mangel an Aufmerksamkeit und dem Lehrer gegenüber an Respekt zeigt, werden sie später kurz zur Seite genommen und höflich darauf aufmerksam gemacht, ihr Gesicht gefälligst erst abzuwischen, nachdem der Lehrer fertig ist. Was besonders im schwülen japanischen Sommer ein Problem darstellt, da einem der Schweiß im wahrsten Sinne des Wortes runterströmt.

 

In diesem Zusammenhang stoßen mir beim Training in Europa manchmal ein paar Dinge komisch auf, die in Japan der Etikette im Dōjō widersprechen würden. Und damit meine ich nicht das allgemeine Tragen von Sandalen bis zur Matte, was auch in den öffentlichen Sporteinrichtungen Japans gang und gebe ist.

Aber von Zeit zu Zeit sieht man Dan-Träger, die ihren Hakama, ihren Hosenrock seitlich in den Gürtel stecken, um mehr Fußfreiheit zu erlangen. Mal ganz abgesehen davon, dass das vom Kampfkunst-Aspekt her keinen Sinn macht, soll doch der Gegner nicht sehen können, wie man seine Füße bewegt: Es mag vorkommen, dass der Lehrer beim Vorführen den Hakama hochnimmt, um den Zuschauern seine Beinarbeit zu verdeutlichen. Das dient aber nur der Veranschaulichung und sollte die Übenden nicht dazu verleiten, den Lehrer zu imitieren, kommt es doch dem Zeigen seiner Unterwäsche gleich. Und das geht gar nicht!

Gleiches gilt übrigens auch für den Fall, dass man während des Trainings seine Kleidung richten möchte: Bitte nicht mitten auf der Matte, wo einen alle beobachten können! Am besten kurz zur Seite gehen, sich zur Wand drehen und schnell und unauffällig alles erledigen.

Gelegentlich sieht man auch jemanden in einer schwarzen Jacke oder einem weißen Hakama trainieren (ich habe sogar schon mal jemanden in einem pinken Anzug beim Training gesehen). Und wenn es auch japanische Lehrer geben mag, die so unterrichten, sollte man dem Bedürfnis, diese Lehrer zu imitieren bzw. durch seine „Individualität“ auffallen zu wollen (was sich eigentlich gegenseitig ausschließt), nicht erliegen. Denn der Versuch, sich auf diese Art und Weise auf eine Stufe mit dem Lehrer zu stellen, fällt zwar auf, aber nur unangenehm.

Ein bei Anfängern häufig zu sehender Fehler betrifft die Kleidung: Bei den Jacken muss das linke Revers über das rechte gelegt werden, und der Gürtel muss so verknotet werden, dass die Gürtelenden seitlich herausstehen und nicht vertikal. Umgekehrt macht man es in Japan nämlich nur bei Verstorbenen vor der Verbrennung! Hier kommen kulturelle Tabus ins Spiel, die man nicht ignorieren sollte.

 

Während ich durchaus der Meinung bin, dass man nicht päpstlicher als der Papst sein sollte, empfinde ich Aikidō natürlich auch als ein Stück japanischer Kultur. Wenn wir uns während des Trainings die Hand geben würden, anstatt uns voreinander zu verbeugen, wenn wir in Joggingklamotten statt in Aikidō-Anzügen trainieren würden, wenn wir überhaupt alles weglassen würden, was nicht unbedingt nötig ist, kommt irgendwann der Punkt, wo das was wir machen aufhört, Aikidō zu sein, und beginnt, etwas anderes zu sein. Scheinbar oberflächliche Gesten und Rituale tragen dazu bei, die ganz besondere Atmosphäre eines Aikidō-Trainings zu erzeugen.

Außerdem wollen wir ja auch etwas vom Aikidō lernen, wir wollen ein Stück japanischer Kultur lernen. Woran sollen wir erkennen, was wesentlich zum Aikidō gehört, wenn wir uns nicht erst einmal darauf einlassen? Auch das bedeutet es, dem ganzen ein Stück Respekt entgegen zu bringen. Und wir sollten versuchen, den (japanischen) Lehrern, von denen wir uns ja etwas erhoffen, nicht dadurch vor den Kopf zu stoßen, dass wir ihre Sitten und Gebräuche mit den Füßen treten.

Letzten Endes ist es nämlich immer besser, durch Trainingseifer und die Qualität der eigenen Bewegungen herauszustechen, als durch mangelnde Konformität unangenehm aufzufallen. Denn solchen Leuten bringt niemand gerne etwas bei!

 

Es gibt auch einen neuen Artikel zum Thema „Gewaltprävention“ im Bereich „Aikidō ist ...“.

(Autor: Max Seinsch)

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