Aikidō als Selbstverwirklichung?!

(Dieser Artikel hat etwas mehr Zeit in Anspruch genommen, dafür ist er etwas länger. Bei der Artikulierung dieser Gedanken waren mir die Teilnehmer meines Morgentrainings eine große Hilfe, die sich als dankbare Blitzableiter erwiesen, um meine Gedankengänge zu erden.)

Sowohl im Internet, als auch in der einschlägigen Literatur, sowie in Medienberichten erlebe ich fortwährend eine einseitige Betonung der einzelnen Person, des Individuums, die ich höchst irritierend finde. Wie im Fitness- und Wellness-Studio werden die Vorzüge der Zen-Meditation, des Yoga, des Tai Chi, aber auch der japanischen Kampfkünste mit dem Potential für ansehnlichere Körper, größere Ausdauer, besseres Konzentrationsvermögen, innere Balance, Selbstsicherheit und gar Selbsterkenntnis propagiert. Diese allgegenwärtige Überbetonung auf das Selbst, auf das Ego, kommt mir höchst befremdlich vor, soll doch das Ziel des Zen und aller von ihm beeinflussten Kulturformen gerade die Auflösung des Ego und des subjektiven Bewusstseins sein.

Einer der wichtigsten Gründe, die mich nach zehn Jahren Karate (unbewusst) dazu brachten, zum Aikidō zu wechseln, war deshalb auch, dass man im Aikidō fast ausschließlich zu zweit (oder mehr) trainierte. Das ausgeprägte Training der Grundtechniken und der Kata im Karate, die man wie beim Schattenboxen allein übt, war mir schlichtweg langweilig geworden. Aber nicht nur das. Die extensive Beschäftigung nur mit mir selbst in diesen Trainingsformen war über lange Zeit faszinierend und notwendig zugleich. Doch im Laufe der Trainingsjahre wurde mir dieses introvertierte Training fad und unbefriedigend. Danach kam mir die vielseitige Beschäftigung mit verschiedensten Trainingspartnern und die Aufmerksamkeit, die dem direkten Umfeld und der äußeren Welt gezollt wird, im Aikidō wie eine Befreiung vor.

Dennoch erlebe ich selbst in Aikidō-Dōjōs häufig eine einseitige Betonung auf den Einzelnen. Oft heißt es bei Erklärungen „tori muss sich so und so bewegen“ oder „uke muss auf das und das achten“. Womit impliziert wird, dass solange beide Partner sich auf ihre eigene Rolle konzentrieren, die Technik auch funktioniert. Selten bekommt man mal zu hören, „wenn tori sich so bewegt, wirkt sich das folgendermaßen auf uke aus“. Oder „nur wenn tori sich im Verhältnis zum uke richtig positioniert, überträgt sich seine Gewichtsverlagerung optimal auf den Partner“. Selten wird auf das Gegenspiel bzw. das Zusammenspiel der Kräfte, der Bewegungen, der Partner eingegangen.

Diese Beunruhigung meinerseits über eine übertriebene Verinnerlichung des Aikidō steht auch im engen Zusammenhang mit meiner langjährigen Irritation über allzu esoterische Interpretationen der japanischen Kampfkünste. Beschreibungen wie „Spiritualismus in Bewegung“ oder „Harmonie mit der Seele des Universums“ jagen mir bis heute kalte Schauer über den Rücken. Überhaupt die gesamte Gleichsetzung der Zen-Schiene, Buddhismus möchte ich es gar nicht mehr nennen, mit der japanischen Kultur im Allgemeinen und den Kampfkünsten im Besonderen entspricht nicht dem, was ich in 16 Jahren in Japan erlebt und erfahren habe.

Gerne wird im Westen die „echte“ japanische Kultur als still, schlicht, introvertiert und kontemplativ stereotypisiert, während alles, was in Japan laut, bunt, extrovertiert und spektakulär ist, als amerikanisierte Kultur abgetan wird. Doch während sich eine gewisse „Verwestlichung“ der japanischen Kultur nicht abstreiten lässt, werden hier Ursache und Wirkung verwechselt. Moderne japanische Kultur wirkt nicht laut, bunt und extrovertiert, weil sie amerikanisiert wurde, sondern konnte problemlos amerikanische Einflüsse aufnehmen, weil sie von vornherein auch laut, bunt und extrovertiert war.

Ströme von japanischen Touristen bestaunen die berühmten Zen-Tempel und -Gärten Kyōtos genau wie Amerikaner und Europäer und sind genauso tief beeindruckt davon, eben weil es ihren Augen genauso fremd und exotisch erscheint wie denen der Ausländer. Aber danach muss es dann auch wieder so etwas prunkvolles wie die vergoldete Pagode des Kinkakuji sein. Nō-Theaterstücke, tief vom Geist des Zen durchhauchte hohe Kunst, müssen in regelmäßigen Abständen von komischen Stücken des Kyōgen-Theaters unterbrochen werden, damit das verehrte Publikum nicht reihenweise einschläft. (Für viele Zuschauer, habe ich mir sagen lassen, sei das Nō auch nur notwendiges Übel, um sich am Kyōgen erfreuen zu können.) Größerer Beliebtheit erfreut sich sowieso das spektakuläre, actionreiche Kabuki-Theater.

Shintō-Schreinfeste sind, nicht unähnlich dem Kölner Karneval, extravagante, farbenfrohe und lautstarke Massenveranstaltungen, denen gegenüber die Lebendigkeit und Geschäftigkeit des größten Fischmarkts der Welt, Tsukiji in Tōkyō, kaum nachstehen. Und die Ursprünge der inzwischen weltweit beliebten Mangas sind nicht etwa bei Walt Disney & Co. zu suchen, sondern in den prächtigen und oft frivolen Farbholzschnitten Japans des 18. und 19. Jahrhunderts.

Was, werden sich die werten LeserInnen, die es bis hierher geschafft haben, fragen, hat das alles mit Aikidō zu tun? Aikidō wird vor allem in Deutschland gerne als harmonische, spirituelle, der Esoterik und dem Zen nahestehende Bewegungskunst charakterisiert, die so pazifistisch ist, dass ihr alles martialische eigentlich abgeht und sie die Bezeichnung „Kampf“-kunst nicht wirklich verdient. Soweit man allerdings vom Aikidō als einer spirituellen Kampfkunst reden kann, ist diese Spiritualität keineswegs nach innen gerichtet, sondern nach außen. Sie ist nicht introvertiert, sondern extrovertiert. Sie ist nicht auf das Ego gerichtet, sondern auf das „Nos“, das Wir. Sie sucht nicht Selbstvertrauen durch Selbsterkenntnis, sondern Vertrauen in die Mitmenschen durch die Erkenntnis, dass man eingebunden ist in der Gemeinschaft. (Ich kann auch esoterisches Kräuterteegebabbel, wenn ich will!)

Wer dieser Tage etwas ins Schwitzen kommen, sich (!) fithalten will, stopft sich zuallerst einmal Kopfhörer in die Ohren und geht Laufen oder ins Fitnessstudio, um abgeschottet von allen Umwelteinflüssen mit sich selbst ins Reine zu kommen. Gott bewahre, dass mich der Typ auf dem Laufband nebenan anspricht. Und das schimpft sich dann „Zen in der Kunst des Marathonlaufens“ oder ähnliches. Und solch gemeinschaftlichen Zeitvertreibe wie Gesellschaftstanz und Chorsingen sind ja eh sowas von out!

Diese gleichzeitig tiefgehende und oberflächliche Beschäftigung mit Meditation und Spiritualität, die sich auch im Wellness-Boom äußert, verrät eine Besessenheit mit dem Selbst, die gerade dem Zen eigentlich völlig abgehen sollte. Man konzentriert sich auf sich selbst, vertieft sich in sich selbst, und verliert derart den Blick für die Welt um einen herum, dass man irgendwann die Echos der eigenen Gedanken und vorgefassten Meinungen in seinem hermetisch abgeschlossenen Geist mit Gottes eigener Wahrheit verwechselt. (Frei nach Terry Pratchett!)

Mir geht es nicht darum, die Motivation der Leute zu hinterfragen, die Zen-Meditation oder Kampfkunsttraining in erster Linie als Methode zur Selbsterkenntnis praktizieren. Und ich akzeptiere die Notwendigkeit dieser Selbsterkenntnis als Grundvoraussetzung in der Entwicklung eines Kampfkünstlers. So wissen Anfänger zum Beispiel im Allgemeinen nicht, mit ihren eigenen Körpern umzugehen, geschweige denn, denen ihrer Trainingspartner. Bevor sie anfangen können, konstruktiv mit einem Partner zu arbeiten, müssen sie erst einmal ihren eigenen Körper kennenlernen und aufbauen. Das verlangt ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin und Selbstkritik, die sogar Fortgeschrittenen oft noch fehlt. Nur wenn man sich selbst gegenüber ehrlich bleibt, ist man in der Lage, ohne Ausreden an eigenen Schwächen zu arbeiten.

Aber Aikidō hauptsächlich als Instrument zur Selbsterkenntnis zu betrachten, lotet die Bedeutung dieser Kampfkunst nicht annähernd aus. Der Fokus auf sich selbst ist eine notwendige erste Stufe, aber was kommt dann? Wenn danach nicht die Hinwendung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins nach außen, hin zum Trainingspartner und zum persönlichen Umfeld folgt, verliert Aikidō nicht nur einen bedeutenden Teil seines Potentials, sondern sein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von anderen Kampfsportarten und -künsten! Denn dort wird zwar auch mit Partnern trainiert, dann geht es aber immer um ein Messen der Fähigkeiten, einen Zweikampf, Kraft gegen Kraft, Schnelligkeit gegen Schnelligkeit, Wille gegen Wille. Mit dem logischen Ergebnis, dass es immer einen Verlierer gibt.

Nirgendwo sonst wird wie im Aikidō das Zusammenspiel der Kräfte, das Zusammenwirken der Bewegungen und die Kooperation der Trainingspartner nicht nur betont, sondern als ausdrückliches Ziel proklamiert. In diesem Zusammenhang gefällt mir daher auch die Übersetzung „Synergie“ für das „aiki“ von Aikidō immer besser. (Siehe Wikipedia: „Die Synergie (...) bezeichnet das Zusammenwirken von Lebewesen, Stoffen oder Kräften im Sinne von „sich gegenseitig fördern“ bzw. einen daraus resultierenden gemeinsamen Nutzen. Eine Umschreibung von Synergie findet sich in dem Ausspruch von Aristoteles „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, auch als Holismus bezeichnet.“)

Lange Rede, kurzer Sinn: Es geht nicht um mich, sondern um uns. Es geht nicht um Einsamkeit, sondern um Zweisamkeit. Es geht nicht um Unabhängigkeit, sondern um die Fähigkeit, dem Mitmenschen vertrauen und sich auf ihn verlassen zu können. Persönlichkeitsentwicklung ausschließlich durch In-sich-gehen ist von Beginn an begrenzt, denn ihr volles Potential erreicht sie nur dann, wenn sie die Angst vor der großen weiten Welt überwindet und über sich selbst hinauswächst, um mit den Mitmenschen in der Welt zusammenwirken zu können. Der Trainingspartner ist daher kein Mittel zum Zweck, keine Antenne, um mit kosmischen Sphären in Verbindung zu treten. Sondern die Synergie mit dem Partner erweist sich als die Transzendierung der eigenen, auf sich selbst beschränkten Welt. ;-)

(Autor: Max Seinsch)

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Comments: 4
  • #1

    M. Seinsch (Monday, 29 April 2013 15:34)

    Aus einer Ankündigung zu einer Fotoausstellung in Hamburg: "Bereits im 19. Jahrhundert werden stereotype Bildmuster geschaffen, die noch heute unser Bild von Japan prägen. Die Fotografien zeichnen kein realistisches Bild, sondern spiegeln die Phantasmen europäischer Exotik wider."
    Infos zur Ausstellung unter: http://www.mkg-hamburg.de/de/ausstellungen/aktuell/typisch-japan-reisefotografie-des-19-jh.html

  • #2

    H.J. Graf (Monday, 01 July 2013 06:51)

    Schade, wenn Fitness- oder Wellnesstempel Meditation, Yoga oder Qi-Gong vor allem als Körperübung anpreisen, einen leistungsfähigeren Körper in Aussicht stellen und die spirituellen Wurzeln dieser KörperGeistWege kappen. Auf diese Weise werden sie auf Techniken reduziert. Je geschmeidiger man sie beherrscht, desto stärker blüht das Ego auf. Auch im Aikido passiert das, wenn, wie Du schreibst, die „Betonung zu sehr auf den Einzelnen“ liegt. .

    Vielleicht ist das erst einmal der Preis dafür, diese KörperGeistWege im Westen anschlußfähig zu machen. Die geistige Komponente weckt ja eher Misstrauen, schließlich ist unser Denken von der Aufklärung geprägt, da schmeckt das Spirituelle unkoscher.

    Erfreulich ist trotzdem, dass diese Techniken Resonanz finden im Westen. Es zeigt, dass Menschen zunehmend sensibel auf Stress und Hektik im Alltag reagieren und nach körperlicher Entspannung suchen. Vielleicht werden manche von den Übungen auch so berührt, dass sie sich für deren spirituelle Herkunft zu interessieren beginnen. Der Geist weht ja bekanntlich, wo er will.

    Fitness- und Körperwahn haben mit Zen natürlich nichts zu tun. Zen bedeutet allerdings auch nicht „die Auflösung des Ego und des subjektiven Bewusstseins“, wie Du schreibst, zumindest nicht vorrangig. Sicherlich zielt die Zenübung darauf ab, sich als große Einheit mit Mensch und Natur zu erfahren. Wer einen solchen Moment erlebt, dem mag sich Ego und fragmentiertes Bewußtsein eine Weile auflösen. Doch beides kehrt schnell wieder zurück. Gar mancher möchte dann an dieser Einheitserfahrung festhalten – auf Wolke 7 lebt es sich ja nicht unangenehm. Doch Zenmeister lassen da nicht mit sich spaßen und sprechen vom „Gestank der Erleuchtung“, den die Wolke verbreitet. Sie beharren darauf, dass der Schüler in die Welt, auf den „Marktplatz“ zurückkehrt und sich dort – in der Praxis – aus seiner Ich-Besessenheit löst . Im Zen ist vor allem der Weg das Ziel, nicht umgekehrt.

    Die japanische Kultur nur als still, schlicht und kontemplativ zu sehen, ist natürlich ein Klischee. Sie ist auch laut, bunt und extrovertiert. Nur ist sie ersteres eben auch. Und dieser Teil, denke ich, sorgt für eine spirituelle Grundierung der japanischen Kultur. Davon sind die Kampfkünste nicht unbeeinflusst geblieben. Ähnliches ist in unserem Kulturkontext ja auch passiert, nur mit einer völlig anderen mentalen Ausrichtung: Als zum Beispiel Turnvater Jahn das Ideal des zackigen deutschen Körpers aus der Taufe hob.

    Ich finde, dass Du über den kontemplativen Hintergrund der japanischen Kultur zu schnell hinweggehst, er Dir manchmal fast peinlich ist. Möglich, dass Du deshalb auch den Gegensatz aufbaust, Aikido sei als spirituelle Kampfkunst nach außen und nicht nach innen gerichtet. Aus meiner Sicht ist der Gegensatz künstlich. Was sich im Außen ausdrückt, ist im Inneren vorbereitet worden.

    Wenn, wie Du schreibst, Aikido auf das „Nos“, das „Wir“ abzielt, hat das nicht nur mit dem Außen zu tun, sondern ist in der Introspektion, in der Meditation gewachsen. Denn wo sonst soll dieses „Wir“ herkommen, wenn es authentisch und nicht nur propagiert, also vom Kopf gesetzt, sein will?

    Einerseits stehst Du hinter der spirituellen Natur von Aikido. Zum Beispiel wenn Dir für „aiki“ die Wikipedia-Übersetzung „Synergie“ gefällt, womit ein „Zusammenwirken von Lebewesen, Stoffen oder Kräften“ gemeint ist, dass „sich gegenseitig fördert“. Oder wenn Du schreibst: „Es geht nicht um mich, sondern um uns. Es geht nicht um Einsamkeit, sondern um Zweisamkeit. Es geht nicht um Unabhängigkeit, sondern um die Fähigkeit, dem Mitmenschen zu vertrauen.“

    Andrerseits werde ich den Eindruck nicht los, dass Du Dich dem kontemplativen Hintergrund der japanischen Kultur, dem „In-sich-gehen“, auch verweigerst und ihn nur mit spitzen Fingern anfasst. Für mich sind sie Voraussetzung, um das von Dir skizzierte Aikido-Außen authentisch erfahren zu können. Auch hier gilt für mich: Der Weg ist das Ziel, nicht umgekehrt.

    Dass das „In-sich-Gehen“ keine Selbstbespiegelung sein sollte, habe ich oben schon erwähnt.

  • #3

    Max Seinsch (Wednesday, 03 July 2013 10:20)

    Vielen Dank für die schöne Antwort!
    Weil eins der Grundprobleme wie so oft eine Frage der Definition ist, was man unter "spirituell" versteht, könnten wir wahrscheinlich stundenlang darüber diskutieren, inwiefern Aikido eine spirituelle Kampfkunst ist oder nicht. Oder auch darüber, welcher Bereich Priorität einnimmt, der geistige oder der körperliche. Das würde jetzt zu weit führen.
    Dass ich aber nicht der einzige bin, der gewisse westliche Klischees über Japan kritisch sieht, zeigt sehr schön die folgende Seite von Bernhard Scheid:

    http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Grundbegriffe:Stereotype

    Ich bin durchaus der Meinung, dass Aikido wie andere "Körper-Geist-Wege" auch sowohl körperlich, als auch geistig-mental einen Wachstumsprozess hervorrufen und unterstützen können. Dafür ist es aber dringend nötig, nicht nur uns selbst, sondern auch unsere liebgewonnenen Überzeugungen und Vorurteile zu hinterfragen und, wenn nötig, anzupassen. (Ja, auch ich!)
    Liebe Grüße
    Max

  • #4

    Max Seinsch (Wednesday, 03 July 2013 14:51)

    Hier nun die etwas längere Antwort (denn weniger verdient Dein Kommentar nicht).
    Es war nicht meine Absicht, über den kontemplativen Hintergrund der japanischen Kultur hinwegzugehen, sondern darauf hinzuweisen, dass es in der westlichen Vorstellung über Japan einen Wust an romantisierenden Einbildungen, Klischees, Stereotypen und Vorurteilen gibt, der diesen kontemplativen Hintergrund in einer Weise überzeichnet und verunstaltet, dass er mit der historischen, kulturellen und vor allem gelebten Wirklichkeit in Japan nicht mehr viel zu tun hat. Eigentlich sagen solche Klischees mehr über unsere eigene Kultur aus, als über die japanische.
    Auch wollte ich nicht abstreiten, dass Zen-Buddhismus Einfluss auf die japanische Kultur hatte. Allerdings bei weitem nicht in dem Maße, wie es hierzulande gerne vermutet und wie es auch gerade von japanischen Zen-Apologeten wie D.T. Suzuki gerne propagiert wird. Der Zen-Buddhismus war eine nicht unwichtige, aber trotzdem nur kleine Geistesströmung in der japanischen Kulturgeschichte, die dem Einfluss der zahlreichen anderen buddhistischen Sekten, aber auch den Einflüssen von Shintō, Konfuzianismus, Nativismus und vielen anderen nicht viel entgegen zu setzen hatte.
    Dem kontemplativen Hintergrund der japanischen Kultur verweigere ich mich keineswegs. Wie ich geschrieben habe, erachte ich das „In-sich-Gehen“ sogar als eine äußerst wichtige und notwendige Stufe, bevor man überhaupt anfangen kann, sich nach außen zu orientieren, d.h. sich um den Trainingspartner zu kümmern. Und nicht umsonst ist der Wahlspruch des Aikidōkan Berlins „Training von Körper und Geist“.
    Womit ich meine Probleme habe, und da hätte ich in dem Blogtext rigoroser unterscheiden müssen, ist die Gleichsetzung von „geistig“ mit „spirituell“, auch wenn beide laut Duden mehr oder wenig das gleiche bedeuten. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass diese beiden Wörter im täglichen Sprachgebrauch mit leicht unterschiedlichen Vorzeichen benutzt werden bzw. andere Assoziationen hervorrufen. Wenn sich natürlich beide Begriffe auch überschneiden, assoziiere ich mit „geistig“ eher die Philosophie, während ich mit „spirituell“ eher Religion verbinde. Die Bezeichnung „spirituell“ liegt mir zu nahe an spiritualistischer Metaphysik, spiritistischen Seancen, schamanistischen Geisterbeschwörungen, Exorzismen und sonstigem esoterischen „Geheimwissen“, als dass mir wohl bei der Sache wäre. Gleichzeitig vernachlässigt, ja geradezu beleidigt der Spiritualismus einen beträchtlichen und wichtigen Teil des menschlichen Geistes, ohne den wir heute noch im dunklen Mittelater hausen würden: den Intellekt! Aikidō als „Körper-Geist-Weg“, wobei der „Geist“ auch den „Intellekt“ mit einschließt, das kann ich guten Gewissens akzeptieren und vertreten. Aber Aikidō als „spiritueller“ Religionsersatz, der uns über unsere Enttäuschung über althergebrachte Glaubenssätze und -praktiken hinweghelfen soll, nein, das werde ich nicht gutheißen!
    Mal ganz abgesehen davon, dass ich ein gebranntes Kind bin, was selbsternannte Meister und Gurus angeht, begegnen mir immer wieder „spirituelle“ Ansichten und Meinungen, die die Menschen im harmlosesten Fall davon abhalten, ordentlich (d.h. schweißtreibend) zu trainieren, und im schlimmsten Fall zu geistiger Abhängigkeit und Sklaverei führen. Das hat meines Erachtens nicht nur mit Scharlatanerie zu tun, sondern auch mit der betonten Absicht der „spirituellen“ Wege, den Intellekt abzuschalten. Aber wie können wir in uns gehen, wie konstruktive Selbstkritik üben, wenn wir uns selbst der geistigen Mittel berauben, unser Innen- und Außenleben zu analysieren. Denn genauso, wie der Intellekt allein nicht in der Lage ist, endgültige Urteile über mentale und emotionale Vorgänge zu fällen, werden menschliche Gefühle und Befindlichkeiten es allein nicht schaffen, die Tiefen des menschlichen Geistes auszuloten.