„bōryoku“ rohe, brutale, illegitime Gewalt
Zwei Dimensionen der menschlichen Realität sind ihm von existentieller Bedeutung: Leben und Tod. Diese korrespondieren wiederum zu Bereichen der menschlichen Existenz, die den Menschen von jeher bewegten: Leben, Liebe und Sex im Gegensatz zu Tod, Hass und Gewalt!
Aber während es in den höflichen Kulturen eine Vielfalt an Wegen bzw. Medien gibt, die sich mit Leben, Liebe und Sex auseinander setzen und über die man befähigt wird, damit umgehen zu lernen und sie auszuleben (z.B. Literatur, Musik, Tanz), gibt es kaum gesellschaftlich anerkannte Wege, mit Aggression, Hassgefühlen und Gewalt umgehen zu lernen, geschweige denn, sie auszuleben. Dabei müsste uns eigentlich klar sein, dass der Mensch nicht „nur gut“ ist, sondern auch eine „dunkle“ Seite hat, deren Verdrängung bestenfalls zu psychischen Krankheiten und im Extremfall zu unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen führt.
Das Ideal der Gewaltfreiheit mag ethisch-moralisch zu den höchsten kulturellen Werten der Menschheit gehören, trotzdem bedarf dieses Ideal einiger Differenzierungen:
(1) Gewalt als solche ist wertneutral: Ihre ethisch-moralische Bewertung hängt immer davon ab, wer mit welcher Intention Gewalt ausübt. Z.B. ein Löwe, der ein Beutetier jagt, tötet und auffrisst, kann ethisch-moralisch nicht verurteilt werden. Genausowenig kann eine Frau verurteilt werden, die sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eines Vergewaltigers erwehrt. D.h. unter ethischen Gesichtspunkten verurteilte Gewalt untersteht immer gewissen kulturellen und sozialen Bedingungen. Umgekehrt gibt es also immer gewisse Bedingungskonstellationen, unter denen Gewaltanwendung auch wieder ethisch vertretbar, wenn nicht sogar erforderlich ist.
(2) Das Prinzip der Gewaltlosigkeit z.B. eines Mahatma Gandhi ist als sozial-politische Bewegung sinnvoll und begrüßenswert, wenn sich auch über die politische Wirkungskraft einer solchen Bewegung streiten lässt, weil sie einen moralischen Agenten als Gegenüber erfordert. (Die Wirkung von Gandhis Bewegung des gewaltfreien, zivilen Ungehorsams auf das unmoralische Regime in Südafrika und später auf die britische Regierung in Indien wird typischerweise überbewertet, so lobenswert sie auch war.)
Auf der zwischenmenschlichen, persönlichen Ebene kann dasselbe Prinzip aber sehr schnell dazu führen, dass man übervorteilt, mit Füßen getreten, überwältigt und/oder vergewaltigt wird. Ein Straßenräuber, U-Bahnschläger oder Vergewaltiger wird sich nicht beeindruckt zeigen, wenn sein Opfer angesichts seines Gewaltausbruchs passiven Widerstand leistet oder, um es einmal bösartig auf den Punkt zu bringen, in den Hungerstreik tritt. Im Gegenteil, der Gewalttäter wird sich ob des Mangels an Gegenwehr freuen und das gnadenlos ausnutzen!
(3) Solange tagtäglich überall auf der Welt, und auch in den sogenannten zivilisierten westlichen Ländern, Frauen, Kindern und, ja, auch Männern Gewalt angedroht und angetan wird, besteht nicht nur die moralisch-ethische Berechtigung, sondern auch die moralische Pflicht (z.B. für beobachtende Dritte) dieser Gewalt entgegenzutreten und alles Mögliche zu tun, um sie zu beenden. Und das beinhaltet auch die eigene Anwendung von Gewalt!
Einer Frau, die im Begriff ist vergewaltigt zu werden, ist nicht damit geholfen, ihr zu empfehlen, sich nicht zu wehren, „weil der Vergewaltiger sonst gewalttätig werden könnte“. Dieser Person wird bereits von Anfang an Gewalt angetan, der Täter ist bereits von Anfang an gewalttätig. Und das Opfer hat jede denkbare Berechtigung, dieser Gewalt entgegen zu treten und ihr mit allen verfügbaren Mitteln ein Ende zu bereiten.
(Darüberhinaus zeigen einschlägige Statistiken, dass gewaltsame Gegenwehr der Opfer die Chance, den Täter von seinem Vorhaben abzubringen und von seinem Opfer abzulassen, erheblich erhöht. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass aktive Gegenwehr dem Opfer im Nachhinein vielleicht sogar hilft, psychologisch besser mit dem Trauma umzugehen bzw. es besser zu verarbeiten, weil es sich keine Selbstvorwürfe machen kann, nichts gegen die Tat gemacht zu haben!)
Der Gesetzgeber verfügt in seiner Notwehrgesetzgebung ein wenig realistisches Angemessenheitsgebot, das aber im Ernstfall nur selten einzuhalten möglich sein wird, gerade weil man sich in einer Notsituation befindet, die einem Opfer keinerlei Spielraum erlaubt, die Angemessenheit seiner Gegenwehr zu ermessen. Wenn auch die Aussicht, sich später der Staatsgewalt ausliefern zu müssen, nicht unbedingt erstrebenswert erscheint, ist das immer noch besser, als sich der rohen Gewalt eines Kriminellen zu unterwerfen.
Insgesamt muss gesagt werden: Gewalt ist ein Mittel, ein Instrument, das nicht erstrebenswert, aber moralisch neutral ist! (Ein notwendiges Übel wie Zahnärzte!) Deshalb braucht die moderne Gesellschaft einen differenzierteren Gewaltdiskurs, sowie besonders für ihre jüngeren Mitglieder Wege und Methoden, mit Aggression, Gewalt und all ihren Ausdrucksformen verantwortungsvoll umgehen zu lernen und sie möglicherweise zu sublimieren, ohne sie unkontrolliert ausbrechen zu lassen.
Die meisten Sportarten dienen bereits als eine solche Methode, aber meist unbewusst und nicht zielgerichtet, und können z.B. durch Übersteigerung in Wettkämpfen zu erhöhter Aggression, Gewaltbereitschaft und damit mehr Gewaltpotential führen. Darüberhinaus haftet Sportarten, die sich Gewalt direkt zum Thema machen, d.h. die Kampfsportarten wie Boxen, der Nimbus an, Gewalt zu verherrlichen und zu fördern. Um einerseits zu lernen, auf verantwortliche Weise mit Gewalt umzugehen, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verletzen, und andererseits nicht in den Drang zu geraten, Aggressionen ausleben zu müssen und zu wollen, bedarf es ritualisierter Methoden (==> ritualisiert, d.h. kontrolliert) von „Gewalt-“ Ausübung, die es sich zum Ziel setzen, gerade keine Gewalt auszuüben (==> Gewaltlosigkeit!), ohne sich Gewalt in der Gesellschaft passiv und machtlos aussetzen zu müssen.
Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit zeitigt, wie oben erwähnt, seine Wirkung höchstens auf der Ebene einer sozialen Gruppe gegen eine (moralische) Regierung, aber keineswegs auf der Ebene zweier oder mehrerer Individuen. Gibt es daher die Möglichkeit, auf Gewalt reagieren und ihr entgegenwirken zu können, ohne selbst in Gewalt eskalieren zu müssen?
Aikidō stellt an sich den Anspruch, eine solche Methode zu sein! Aikidō ist eine Kampfkunst, d.h.: Man lernt zu kämpfen! (Darum ist Aikidō auch kein Ringelpitz mit Anfassen!) Als solche dient Aikidō auch als Selbstverteidigungssystem, das nicht das christliche Prinzip „rechte Backe, linke Backe“ anstrebt, sondern sich im Gegenteil zum Ziel setzt, gar nicht erst auf die rechte Backe geschlagen zu werden. Es ist statthaft, gegen Gewalt zu handeln, aber immer mit dem Ziel und Ideal im Auge, einen eventuellen Angreifer nicht zu verletzen oder gar zu töten, sondern ihn eines Besseren zu belehren!
Das Aikidō-Ideal, einem Aggressor kein Leid zufügen zu wollen, wird dabei oft als „Gewaltlosigkeit“ bzw. „Gewaltfreiheit“ missverstanden. Das liegt unter anderem an einer Fehlinterpretation der Aikidō-Prämisse, dass Aikidō eine Kampfkunst ohne Gewalt sei. Die japanische Vokabel „bōryoku“ (暴力 rohe, brutale Gewalt) ist nämlich immer negativ besetzt, während das deutsche „Gewalt“ auch wertneutral benutzt wird. Was ein Gewalttäter tut, um andere Menschen zu verletzen ist „bōryoku“, aber was ein Polizist tut, um diesen Gewalttäter zu überwältigen, wird im Japanischen nicht als „bōryoku“ bezeichnet! Die Gewalt, die ein Mensch ausübt, um sich eines unprovozierten Angriffs zu erwehren, ist rechtens und moralisch vertretbar. Daher würde dies im Japanischen auch nicht mit „bōryoku“ übersetzt.
Den Körper eines Angreifers zu manipulieren, zu hebeln und zu werfen, bedeutet, ihm Gewalt anzutun, ganz unabhängig davon, wie sehr man dabei Kraft und Schwung eines Angreifers gegen ihn selbst zurückrichtet. Die oft gehörte Aussage „ein Angreifer wirft sich selbst“ ist reine Wortspielerei, um nicht zu sagen -verdreherei, die den Aikidōka von Verantwortung freisprechen soll. (Mal ganz abgesehen davon, dass es im Aikidō Hebel-, Atemi- (Schock-) und Waffentechniken gibt, die äußerst schmerzhaft und sehr wohl in der Lage sind, einen Angreifer erheblich in Mitleidenschaft zu ziehen. Oder dass ein im Aikidō ungeübter Angreifer sich schwer verletzen kann, weil er keine Fallschule beherrscht.)
Einen Angriff so abzuwehren, dass man weder selbst verletzt wird, noch seinen Angreifer verletzt, erfordert ein derartiges Maß an Meisterschaft, dass man es nur von den allerwenigsten Praktizierenden realistisch erwarten kann und darf! Ein Schwarzgurt im Aikidō bedeutet nicht, dass man einen Angreifer auf quasi magische Weise so kontrollieren kann, dass sowohl Angreifer als auch Angegriffener zu keinem Zeitpunkt in Gefahr sind, verletzt zu werden. Im Gegenteil, je länger der Angreifer in der Lage ist anzugreifen, desto größer die Gefahr für den Angegriffenen verletzt und überwältigt zu werden. D.h. es besteht die Notwendigkeit, einem Angriff so schnell und effektiv wie möglich Paroli zu bieten und ihn zu beenden, um sich selbst nur einem Mindestmaß an Gefahr auszusetzen. Und das ist auch gleichzeitig die einzige Möglichkeit, einen Angreifer zu schützen, weil man ihn so vor unnötigem Schaden an Leib und Leben bewahrt.
Allen Idealen der „Gewaltfreiheit“ im Aikidō zum Trotz wird einem Angreifer und seinem körperlichen Wohlbefinden keine Priorität vor dem eigenen bzw. dem Dritter eingeräumt. D.h. es gibt eine deutliche Hierarchie, die der eigenen Unversehrtheit Vorrang vor der eines Angreifers gibt. Das Prinzip der „Gewaltlosigkeit“ im Aikidō beschränkt sich daher auf die Prämisse, dass es im Aikidō keinen Angriff gibt.
(Autor: Max Seinsch)